„Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“

Es war an einem Dienstagnachmittag gegen 16 oder 17 Uhr vielleicht, so genau war das ohne Sonnenlicht schwer zu sagen.

Natürlich hätte sie mit Leichtigkeit einen Blick auf eine der Anzeigen werfen können, um Gewissheit zu erlangen. Aber sie selbst erwartete keinen Zug, also überließ sie das Auf die Uhr gucken den Unmengen anderer Leute, die mehr oder weniger gestresst an ihr vorbeiströmten. Hetzten. Das traf es wohl am besten. Viele von ihnen redeten nicht, zu beschäftigt damit, sich einen Weg durchs Gedränge zu bahnen. Die, die es taten, taten es laut. Stimmen mischten sich miteinander, ineinander untergehend, sich gegenseitig übertönend, in verschiedensten Sprachen mit verschiedensten Tonarten und mehr oder weniger gut im Zaum gehaltenen Emotionen. Meistens eher weniger.

Unter das Gewirr von menschlichen Lauten mischten sich Kofferrollen und Schuhe auf Steinboden. Elektronische Ansagen versuchten, das Ganze zu überschallen, und gingen stattdessen unter in dem Strudel von Geräuschen. Irgendwo fiel etwas zu Boden. Jemand fluchte.

Sie setzte ihren Weg durch die Menge fort, Menschen ausweichend und andere zum Ausweichen zwingend. Die Passagen waren eingerahmt von Parfümerien und Apotheken, Lebensmittelgeschäften und zu vielen von diesen Läden, in denen man Last-minute Geschenke kaufen kann, die sowieso niemand braucht. Aus einem der Imbisse strömte Essensgeruch.

Sie blieb davor stehen und richtete ihren Blick auf die Leute, die darin oder -neben standen, essend, wartend, ungeduldig. Ihre Augen fielen auf einen Mann an einem der Plastiktische. Nicht, weil er besonders interessant oder auffällig ausgesehen hätte. Es waren vielmehr seine Augen, die ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenkten. Es waren traurige Augen. Das war im Grunde alles, was wichtiges über sie zu sagen war, denn sonst unterschieden sie sich nicht von Augen im Allgemeinen. Jetzt, da sie ihn genauer ansah, dachte sie, dass er überhaupt traurig aussah. Seine Schultern waren gesenkt, ebenso der Kopf, wenn er nicht gerade aufsah, um auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand zu gucken. Er hätte mit Sicherheit an einige Orte gepasst in dieser Stimmung; Friedhöfe, Büros an Montagmorgen- nur ein Bahnhof gehörte eher nicht dazu.

Zögernd schritt sie auf ihn zu, blieb kurz stehen, ging weiter. Sie setzte zum Sprechen an, stockte, räusperte sich und versuchte es erneut. „Entschuldigung.“, sagte sie, ohne zu wissen, was sie als nächstes sagen sollte. „Sie sehen traurig aus.“ „Ich habe Sie gesehen und dachte, vielleicht brauchen Sie jemandem zum Reden. Jemanden, der zuhört.“ „Geht es Ihnen gut?“ „Kann ich Ihnen helfen?“. Keiner dieser Sätze schien ihr besonders passend in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich noch nie gesehen hatten. Plötzlich kam ihr das Ganze unverschämt vor. Wer vertraut seine Probleme schon gern einer Fremden am Bahnhof an? Wahrscheinlich machte sie durch ihren Versuch, zu helfen, alles nur noch schlimmer.

Als sie aufsah war der Fremde verschwunden. Sie stand noch genau dort, wo sie ihn eben gesehen hatte, hatte ihren Platz als Beobachterin nie verlassen. Was gingen sie die Leben anderer schließlich an? Vielleicht irgendwann einmal, dachte sie. Wenn die Erde sich ein wenig weitergedreht und die Menschen an Misstrauen verloren hatten. Irgendwann würden sie bereit dafür sein, aus ihren Schneckenhäusern zu kriechen und einander anzusehen.

Sie setzte den Weg fort, den sie nicht hatte. Durch Körper und Wolken von Lärm und Gerüchen. Sie fühlte, wie ihre Sinne taub wurden von den Eindrücken, die auf sie einströmten.

Bei Gleis zwei verließ sie die Passagen und stieg die Treppen zum Bahnsteig hinauf. Es war zu kalt für diesen sogenannten Frühling. Der Wind blies Regentropfen in ihr Gesicht, Müll wehte über den Boden und in ihr und aus ihrem Gesichtsfeld heraus. Sie folgte einer Plastiktüte mit den Augen, wie sie über ihren Kopf und von ihr davon schwebte, an einem Mülleimer und einer Anzeigetafel vorbei, auf der die Worte „Achtung! Einfahrender Zug“ aufblinkten. Die Plastiktüte flog über das Gleisbett. Ein Vogel. Ein Stück Müll. Ein Wolkenfetzen. Dann trafen 500 Tonnen solides Metall auf sie.

Der Luftzug des haltenden Zuges mischte sich mit dem Wind, bis er nicht mehr von ihm zu unterscheiden war. Er setzte eine Coladose in Bewegung, die vor ihre Füße rollte und dort schwankend zum Stehen kam. Auch sie selbst blieb stehen, ließ die aussteigenden Menschen um sich wogen wie Gischt um einen Felsen. Sie blickte auf. Ihre Augen trafen die einer Fremden, die der Zug ausspuckte.

Es gibt diese Momente, in denen einem plötzlich bewusst wird, dass hinter jedem Menschen ein Gesicht, und hinter jedem Gesicht eine Geschichte steckt. Momente, in denen Menschen sich weniger wie Fische in einem Schwarm, sondern wie Angehörige einer Spezies fühlen, die in den Weiten des Alls zum ersten Mal einer anderen begegnet. Sie hatte die andere Frau noch nie gesehen, und doch waren sie verbunden durch die Tatsache, Bewohnerinnen einer und derselben Welt zu sein. Der bizarre Gedanke, die andere anzusprechen, kam ihr bei einem erneuten Blick auf die Coladose vor ihren Füßen. Manchmal hatten Menschen das Bedürfnis nach Menschen. Die Idee eines Gesprächs war also prinzipiell nicht verwerflich. Das Problem bei Menschen war nur, dass man, genau wie bei teuren Bahnhofs-Parfümerien oder blinkenden Werbetafeln, nicht wissen konnte, was sich hinter ihren Fassaden verbarg. Misstrauen überschattete für gewöhnlich das Bedürfnis nach Gesellschaft. Vielleicht, dachte sie, würde es irgendwann anders sein.

Sie wandte sich ab. Ohne den schützenden Halt ihrer Schuhe rollte die Coladose im Wind davon. Das Geräusch wurde verschluckt in der Kulisse um sie herum, so wie alles andere es wurde. Laute. Leute.

Es war an einem Dienstagnachmittag gegen 17 oder 18 Uhr vielleicht, so genau war das bei diesem Wetter schlecht zu sagen. Sie hatte nicht geplant, stehenzubleiben, jedenfalls nicht, bis sie Schritte unmittelbar hinter sich gehört hatte. „Hey.“ Bis zu diesem Wort hatte sie auch nicht vorgehabt, sich umzudrehen. Als sie es doch tat, blieb die Fremde vor ihr ebenfalls stehen. Sie war außer Atem als sie erneut sprach. „Ich hab dich eben am Bahnsteig gesehen.“, sagte sie. „Ich dachte…“, sagte sie. Zögernd. Unsicher. Dann holte sie einmal Luft. „Hättest du vielleicht Lust auf eine Cola?“

Irgendwann, hatte sie gedacht. Vielleicht würde es irgendwann so weit sein, hatte sie gedacht. Vielleicht, dachte sie jetzt, mussten sie nicht darauf warten, bis die Welt bereit war. Vielleicht brauchte es keine Zeit, um gute Ideen in Taten umzusetzen. Vielleicht brauchte es einfach Menschen, die mutig genug waren, es zu tun.

(Schülerin, Q1)


Ein literarisches Produkt aus dem Literaturkurs Q1 aus dem Schuljahr 22/23

Aufgabe: Schreibe eine Kurzgeschichte inspiriert von dem Lied „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ von Tocotronic.